Der Anker-Effekt: Wie der Einstiegskurs unser Denken verzerrt
Viele Anleger orientieren sich am Einstiegskurs – und treffen dadurch systematisch falsche Entscheidungen. Dieser Beitrag zeigt, warum das so ist und wie man es besser macht.
An der Börse gibt es eine Eigenart, die vielen Anlegern immer wieder im Weg steht: Sie halten an ihrer ursprünglichen Kaufentscheidung fest – als sei der damalige Einstiegskurs ein Naturgesetz.
Der Preis, zu dem eine Aktie gekauft wurde, wird zum Maßstab für alles Weitere: für Bewertung, für Nachkäufe und Verkäufe. Dabei sollte gerade dieser Preis mit jeder weiteren Entscheidung immer weniger Relevanz haben.
Was wir hier beobachten, ist ein klassisches Beispiel für den sogenannten Anker-Effekt – ein kognitiver Verzerrungsmechanismus, der dazu führt, dass Menschen sich bei Schätzungen oder Entscheidungen übermäßig stark an einem Ausgangswert - dem Anker - orientieren, selbst wenn dieser eigentlich bedeutungslos ist.
🧠 Woher kommt der Anker-Effekt?
Der Anker-Effekt ist tief in unserer mentalen Ökonomie verwurzelt. Er wurde erstmals systematisch von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky untersucht – zwei Pioniere der Verhaltensökonomie. [📖 siehe: Schnelles Denken, langsames Denken (*)]
Der Grundmechanismus: Wenn Menschen eine Entscheidung treffen oder eine Schätzung abgeben, orientieren sie sich oft unbewusst an einem ihnen vorliegenden Ausgangswert – dem „Anker“ – selbst wenn dieser irrelevant oder zufällig ist.
Warum passiert das?
Unser Gehirn ist auf Effizienz gepolt – es versucht, mit möglichst wenig Energie eine Entscheidung zu treffen.
Der Anker bietet einen scheinbar „greifbaren“ Referenzpunkt in einer unsicheren Welt.
In Stress-, Verlust- oder Unsicherheitsphasen – wie sie an der Börse häufig auftreten – greifen wir besonders stark auf Heuristiken wie den Anker zurück.
Übertragen auf die Börse: Der Einstiegskurs wird zum mentalen Fixpunkt, obwohl er objektiv keinerlei Aussagekraft über die Zukunft des Investments hat.
🦃 Die Geschichte vom Truthahn
Ein besonders anschauliches Beispiel für die psychologische Dynamik hinter dem Anker-Effekt findet sich im Börsenklassiker von William O’Neil: Wie man mit Aktien Geld verdient (*).
Darin erzählt er eine kurze, beinahe fabelhafte Geschichte:
Ein alter Mann versucht, wilde Truthähne mit einer einfachen Kiste zu fangen. Die Kiste ist mit Mais gefüllt, der als Lockmittel dient, und wird von einem Stock offen gehalten, an dem eine lange Schnur befestigt ist. Sobald genügend Truthähne in der Kiste sind, will der Mann am Seil ziehen und die Tür zufallen lassen.
Eines Tages sind zwölf Truthähne in der Kiste – perfekter Zeitpunkt, um die Falle zu schließen. Doch einer geht wieder hinaus. Der Mann zögert: Vielleicht kommt er ja zurück. Dann gehen zwei weitere Truthähne hinaus. „Ich hätte mit elf zufrieden sein sollen“, denkt der Mann, doch er wartet weiter. Am Ende ist die Kiste leer – und er geht mit leeren Händen nach Hause.
Was hat diese Geschichte mit Aktien zu tun? Sehr viel.
Denn der alte Mann ist wie viele Anleger: Er hängt an einem Idealzustand aus der Vergangenheit. Einmal zwölf Truthähne – das ist sein Anker. Einmal ein Kaufpreis von 100 Euro – das ist der Anker des Anlegers. Und sobald der Kurs bei 95 steht, lautet das Mantra: „Ich warte, bis er wieder auf 100 steigt, dann verkaufe ich.“
Doch der Markt interessiert sich nicht für den Einstiegskurs. Er preist Zukunft ein – keine Vergangenheit. Wer eine Aktie nur deswegen behält, weil sie unter dem Kaufkurs notiert, blendet aus, dass die Gründe, die damals zum Kauf geführt haben, heute womöglich nicht mehr gelten.
Ebenso wie der Fallensteller einen günstigen Moment verpasst und ihm nachtrauert, statt rational auf die aktuelle Situation zu reagieren, tun sich viele Anleger schwer damit, Verluste zu realisieren oder Gewinne zu sichern – nur weil der Kurs einmal woanders stand.
💡 Was wäre die bessere Entscheidung?
Jede neue Entscheidung sollte losgelöst vom ursprünglichen Einstieg getroffen werden. Die entscheidende Frage lautet:
Würde ich die Aktie heute – zu diesem Kurs, mit diesem Ausblick – wieder kaufen?
Wenn die Antwort „nein“ lautet, dann sollte auch der Besitz dieser Aktie hinterfragt werden.
Das Gleiche gilt umgekehrt für Aktien, die seit dem Kauf deutlich gestiegen sind: Wer hier nur deshalb nicht verkauft, weil der Kurs ja noch weiter steigen könnte, steckt in der umgekehrten Truthahn-Falle. Er ist der Mann mit den zwölf Truthähnen, der auf den dreizehnten wartet.
Der Anker-Effekt ist menschlich. Er ist tief in unserem Denken verankert. Aber wer langfristig erfolgreich investieren will, sollte ihn erkennen – und bewusst hinter sich lassen.
🔍 Checkliste: Bin ich dem Anker-Effekt aufgesessen?
Anhand dieser kurzen Checkliste lässt sich prüfen, ob man gerade dem Anker-Effekt unterliegt:
Reflex: „Ich halte durch, bis ich wieder bei Null bin.“
Typischer Anker-Gedanken: „Ich verkaufe nicht mit Verlust.“
Bessere Frage: Würde ich die Aktie heute – zu diesem Kurs – erneut kaufen?
Reflex: „Ich will mindestens den Höchststand zurück.“
Typischer Anker-Gedanken: „Die stand mal bei 120 €, da will ich wieder hin.“
Bessere Frage: Ist die Bewertung bei 120 € heute noch gerechtfertigt?
Reflex: „Ich warte einfach weiter.“
Typischer Anker-Gedanken: „Ich bin schon so lange drin, jetzt lohnt es sich auch nicht mehr zu verkaufen.“
Bessere Frage: Hält mich gerade Überzeugung oder Sturheit im Investment?
✅ Wie vermeidet man den Anker-Effekt beim Investieren?
Jede Position regelmäßig wie eine neue Kaufentscheidung behandeln.
Bewertungskennzahlen statt emotionaler Referenzpunkte verwenden.
Sich ehrlich fragen: „Wenn ich sie nicht hätte – würde ich sie jetzt kaufen?“
In Szenarien denken, nicht in Vergangenheiten.
Ein Rationalitätsprotokoll führen – bei jeder Entscheidung notieren: Was spricht sachlich dafür? Was dagegen?
✍️ Fazit
Der Kaufpreis einer Aktie ist in dem Moment, in dem wir kaufen, wichtig – doch danach verliert er schlagartig an Bedeutung.
Entscheidungen über Bewertung, Nachkäufe oder Verkauf sollten auf Basis der aktuellen Lage und zukünftigen Perspektiven getroffen werden – nicht aus sentimentaler Verbundenheit mit einem längst vergangenen Kurs.
Der Anker-Effekt ist menschlich – aber an der Börse selten hilfreich. Wer lernt, ihn zu erkennen und zu durchbrechen, trifft bessere Entscheidungen. Und geht am Ende nicht mit leeren Händen heim – wie der alte Mann mit seiner Truthahnfalle.
Wie ist das bei Dir? Hast Du Dich auch schon einmal dabei ertappt, am Einstiegskurs festzuhalten? Ich freue mich, wenn Du Deine Gedanken oder Erfahrungen unten in den Kommentaren teilst.
Viele Grüße,
Daniel aka Whirlwind360
Disclaimer:
Die von mir auf Substack veröffentlichten Analysen und Texte stellen keine Anlageberatung, Steuerberatung oder Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren dar. Ich veröffentliche hier lediglich meine persönliche Meinung.
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Ertappe mich manchmal auch noch dabei aber selten nur noch. ⚓️